Sozialversicherung
Die Sozialversicherung ist innerhalb der europäischen Union nicht harmonisiert, sondern lediglich koordiniert. Das bedeutet, es obliegt allein den einzelnen Mitgliedstaaten, wie sie ihr Sozialversicherungssystem gestalten und finanzieren, welche Leistungen existieren, bzw. nicht existieren.
Diese Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme ist in der Verordnung EG 883/2004 sowie der dazugehörigen Durchführungsverordnung 987/2009 geregelt. Hinzu kommen eine Vielzahl von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes sowie der nationalen Gerichte sowie nationale Vorschriften zur Umsetzung der Verordnungen.
Man sollte deshalb niemals davon ausgehen, dass es in einem neuen Arbeitsland die gleichen oder ähnliche Regeln gibt, wie man es von zu Hause kennt.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel Deutschlands und Dänemarks. Während Deutschlands Sozialversicherung als ein überwiegend beitragsfinanziertes Versicherungsprinzip gestaltet ist, das von der Mitgliedschaft in einer Versicherung abhängt, hat Dänemark sein Sozialversicherungssystem als steuerfinanzierte Bürgerversicherung gestaltet. Wer in Dänemark wohnt, ist in Dänemark versichert.
Die Koordinierungsregeln der Europäischen Union im Rahmen der bereits erwähnten Verordnungen gehen grundsätzlich vom Versicherungsprinzip aus. Diese Koordinierungsregeln legen lediglich fest, welches Land für welche Leistungen wann zuständig ist. Wie diese Leistungen aussehen, ist jedoch jedem Land selbst überlassen.
Was sind die Leistungen der Sozialversicherung im Rahmen dieser Verordnungen?
Gemäß der Verordnung EG 883/2004, sind folgende Leistungen umfasst:
- Leistungen bei Krankheit
- Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft
- Leistungen bei Invalidität
- Leistungen bei Alter
- Leistungen an Hinterbliebene
- Leistungen bei Arbeitsunfällen un Berufskrankheiten
- Sterbegeld
- Leistungen bei Arbeitslosigkeit
- Vorruhestandsleistungen
- Familienleistungen
Grundprinzipien der Koordinierung
Prinzip der Gleichbehandlung
Das Prinzip der Gleichbehandlung soll verhindern, dass EU-Bürger aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit sozialrechtlich diskriminiert werden. Ein leistungspflichtiger Staat darf von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates nicht fordern, dass er mehr Voraussetzungen erfüllen muss als ein eigener Staatsangehöriger. Artikel 7 der Verordnung EG Nr. 883/2004 bestimmt: „Sofern in der Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“
Prinzip der Zuständigkeit nur eines Mitgliedstaates
Das Prinzip der Zuständigkeit nur eines Mitgliedstaates soll verhindern, dass eine Person ohne sozialen Schutz bleibt, ebenso soll das Zusammentreffen von Leistungen mit gleicher Zielrichtung sowie die Belastung mit doppelten Beiträgen vermieden werden. Es gilt hierbei der Vorrang des Beschäftigungsortes (lex loci laboris), das heißt, dass der Staat, in dem der Betreffende arbeitet, für Leistungen der sozialen Sicherheit (Rente, Krankenversicherung etc.) zuständig ist. Das heißt, man ist entweder in Dänemark oder in Deutschland sozialversichert ist, aber niemals mit einem Zweig hier und mit dem anderen Zweig dort.
Äquivalenzprinzip (Sachverhaltsgleichstellung)
Nach Art. 5 der VO EG Nr. 883/2004 werden Leistungen, Einkünfte, Sachverhalte oder Ereignisse gleichgestellt, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie erfolgt sind. Sie werden somit als äquivalent (=gleichwertig) betrachtet. Hiermit soll indirekte Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit verhindert werden.
Hier hat es gegenüber der alten Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eine erhebliche Vereinfachung gegeben. Durch die Einführung des Art. 5 konnten die Einzelvorschriften der alten Verordnung in einer allgemeinen Gleichstellungsvorschrift gebündelt werden.
Beispiele für Zeiten: Beschäftigungszeiten, Zeiten des Bezuges von Krankengeld, Krankenversicherungszeiten etc.
Prinzip der Zusammenrechnung
Wenn das System eines Mitgliedstaates auf die Beschäftigungszeiten, Versicherungszeiten, Wohnzeiten oder Zeiten der Selbständigkeit abstellt, müssen diese Zeiten auch berücksichtigt werden, wenn sie im Ausland absolviert worden sind. Ziel sind geschlossene Versicherungsbiografien, insbesondere im Bereich der Rentenversicherung. So soll verhindert werden, dass ein Versicherter einen Nachteil dadurch erfährt, dass er in verschiedenen Mitgliedstaaten Beiträge entrichtet hat. Art. 6 der Verordnung EG Nr. 883/2004 regelt die Zusammenrechnung von Zeiten:
„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften:
- den Erwerb, die Aufrechterhaltung, die Dauer oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs,
- die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften,
- oder den Zugang zu bzw. die Befreiung von der Pflichtversicherung, der freiwilligen Versicherung oder der freiwilligen Weiterversicherung,
von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten abhängig machen, soweit erforderlich die nach den Rechtsvorschriften eines andeen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten, als ob es sich um Zeiten handeln würde, die nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.“
Pro-rata-temporis-Prinzip
Das Pro-rata-temporis-Prinzip bedeutet, dass sich eine Leistung anteilig aus den in den einzelnen Mitgliedsländern zurückgelegten Versicherungszeiten zusammensetzt. Am Beispiel der Rentenberechnung lässt sich dies illustrieren: Die Leistungshöhe berechnet sich nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem die Versicherungszeit zurückgelegt wurde. Jedoch wird diese Berechnung modifiziert durch das Pro-rata-temporis-Prinzip.
Beispiel: Ei Grenzpendler hat in vier Ländern jeweils 10 Jahre gearbeitet. Er hat dann zwar in jedem Land 40 Versicherungsjahre, erhält aber nur für 10 Jahre aus jedem Land eine Rente. Er erhält dann 4 Teilrenten.
Prinzip des Leistungsexports
Für den Bezug von Leistungen darf sich ein Wohnortwechsel von einem Mitgliedsland in ein anderes nicht negativ auswirken. Geldleistungen dürfen nicht gestrichen oder gekürzt werden, sondern müssen unabhängig davon gezahlt werden, in welchem Mitgliedstaat der Leistungsempfänger wohnt. Das dahinterstehende Prinzip ist das Prinzip des Leistungsexports. Jedoch gibt es auch hier Einschränkungen. So kann z.B. dänisches Wohngeld für Rentner nicht exportiert werden.
Art. 7 der Verordnung EG Nr. 883/2004 sagt: Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.
Verbot von Doppelleistungen
Das Verbot von Doppelleistungen soll verhindern, dass Wanderarbeitnehmer gegenüber permanent Ansässigen bevorzugt werden. Dies könnte dann der Fall sein, wenn eine Person für denselben Versicherungs- oder Wohnzeitraum von zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten Leistungen bei Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenleistungen erhält.
Beispiel: Frau Jensen aus dem dänischen Broager arbeitet zwischen 2003 und 2010 ausschließlich in Deutschland. Dort zahlt sie Pflichtbeiträge in die Deutsche Rentenversicherung. Für diesen Zeitraum erhält sie später nur die Rente aus Deutschland und nicht zusätzlich Folkepension (Dänische Volksrente), die sie eigentlich für ihre Wohnzeit in Dänemark erhalten würde. Somit wird vermieden, dass es zu Doppelleistungen kommt.
Sachleistungen versus Geldleistungen
Sachleistungen werden im Wohnland gewährt auf Rechnung des zuständigen Arbeitslandes, so als ob der Empfänger im Wohnland versichert wäre. Es gibt also im Wohnland keine Leistungen, die Grenzpendlern nicht gewährt werden, nur weil sie Grenzpendler sind. Sachleistungen sind z.B. Kosten für Arztbesuche, Behandlung, Medikamente, Rehabilitationen etc. Gleichzeitig stehen dem Grenzpendler auch Sachleistungen im Arbeitsland zu. Nicht jedoch den mitversicherten Familienmitgliedern, diesen stehen nur Sachleistungen im Wohnland zu, im Arbeitsland des Grenzpendlers stehen ihnen die Sachleistungen nur bei Aufenthalt in diesem Land zu (z.B. im Urlaub).
Geldleistungen werden im zuständigen Arbeitsland gewährt, z.B. Krankengeld.
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